Dienstag, den 17. November 2020

Lieber Jörg, sehr geehrte Kollegen,

nach reiflicher Überlegung will ich – seit der Gründung mit dabei – meine Mitgliedschaft im ADÜ-Nord hiermit kündigen.

Ich möchte das aber nicht, ohne etwas auszuholen, einige Anmerkungen zu machen und Beobachtungen von damals in Erinnerung zu rufen.

Wie es damals gewesen ist, dürften nur noch wenige wissen. Der BDÜ hatte sich ziemlich arrogant verhalten; u.a. maß er den Stellungnahmen und Interessen des kleinen aber zahlungskräftigen Verbandes HH-Schleswig-Holstein wenig Achtung bei. Wir entschieden uns geschlossen, den eigenen Weg zu gehen.

Ich hatte als Namen vorgeschlagen: „Übersetzer und Dolmetscher der Hanseatischen Region“. Laut Gesetz musste der Name einen Hinweis auf die geografische Ansiedlung beinhalten. Bis heute ärgert mich der halbherzige Name, für den sich die Mitgliedschaft (wie ich meine, in Lübeck) entschieden hat. Mein Namensvorschlag verwies immerhin noch auf die stolze norddeutsche Geschichte.

Vorher oder später reiste ein BDÜ-Vorstand aus dem fernen Baden-Württemberg an, um bei einem Gründungstreff in – so meine ich – Ahrensburg mitreden und gegenreden zu dürfen. Er wurde aus dem Saal mehrheitlich ausgeschlossen. Ich gehörte, wie schon immer, zur Minderheit und unterhielt mich mit ihm lange „Draußen vor der Tür“.

Es war aber vorher unter uns doch nicht alles friedlich und einvernehmlich abgelaufen. So gingen viele Jahre voraus, wo in den Versammlungen heftig und bitterböse gestritten wurde. Die Hauptakteure stehen mir noch klar vor Augen. Ganz besonderen Zoff gab es darum, dass mehr getan werden müsste, um den Verein auf Kundenanwerbung auszurichten. Der Vorstand war dagegen.

Meiner Meinung nach hat diese Unterlassung dazu mit beigetragen, dass inzwischen – so wie es den Anschein hat – die Aufträge erst recht und noch viel stärker über Agenturen laufen. Ohne sachlichen Mehrwert, im Gegenteil. Auf das Thema komme ich noch zurück.

Es hat sich gezeigt, dass es produktive und weniger produktive Phasen im Laufe des Verbandes gegeben hat. Das ist wohl weitgehend auf den Einsatz und die Qualität der Vorstandsmitglieder zurückzuführen. Es ist in anderen Verbänden (also auch beim BDÜ) nicht anders.

Aus der Ferne habe ich den Eindruck, dass über die Jahre bestimmte hervorragende Mitspieler geschasst wurden. Die Geschichten sind verjährt, die Betroffenen werden sich erinnern und es besser denn ich wissen. Ein paar Namen kann ich gern telefonisch angeben.

Als Anmerkung für Mitleser: Ich selbst beteiligte mich rege, wenn auch ohne für den Vorstand zu kandidieren, bis zu kurz vor meiner Übersiedlung nach Berlin im Jahre 2000. So habe ich u.a. vereinsextern (und vor unserem Austritt aus dem BDÜ) einen „Leitfaden für die Vergabe von Übersetzungen“ initiiert, der nach zwei Jahren erneut aufgelegt wurde. Der 25 Mitglieder umfassende gemeinschaftliche Leitfaden – selbstverständlich mit Adressen, Fachgebieten und Arbeitssprachen – wurde an ca. 3000 Firmen verschickt.

Eine weitere Anmerkung, die zeitfremd ist. Ich kam zu den Sprachen nicht zuletzt durch meine Abneigung jeglicher vorwiegend „Männergesellschaft“ gegenüber. Ich ziehe noch immer das Miteinander mit hohem Frauenanteil vor. Allerdings, so mein Eindruck, bedarf es – aus mir unerklärlichen Gründen – doch einer größeren Durchmischung, als der in den letzten Jahren in den Vorständen nicht nur des ADÜ-Nord vorzufindenden. Mit Frauen allein geht es auf Dauer nicht.

Lange ist mir ein Dorn im Auge, dass unser Beruf betriebswirtschaftlich – an seiner fachlichen Kompetenz gemessen – hinterherhinkt. Meine (wie ich meine) fortschrittlichen Versuche, etwas in Bewegung zu bringen, sind weitgehend (wenn doch nicht gänzlich) auf taube Ohren gestoßen.

So besteht (meiner Ansicht nach) ein Fehler in der Strategie, immer auf Weiterbildung zu setzen. Viele von uns sind schon längst mit Allgemein- und Spezialwissen hervorragend gerüstet. Häufig führt ein Hinzulernen nur dazu, dass bereits Gelerntes halbwegs vergessen werden muss. Insoweit setzen ADÜ-Nord und BDÜ auf das falsche Pferd. Möchte ein Kunde, dass wir uns in sein Fach einarbeiten, so kann er einen mehrjährigen Rahmenvertrag mit Mindestabnahmen vereinbaren. Man sollte kein neues Fachgebiet (z.B. Textilien) erarbeiten, ohne dass es ein Bedarf an Übersetzungen konkret vorliegt.

Alleine zielführend wäre, meiner Ansicht nach, Folgendes:

Zusammenarbeit mit anderen freien Berufen und überhaupt mit Wirtschaftsverbänden, in dem Sinne, dass sämtliche Nebenleistungen nach Gesetz bezahlt werden müssen. Will ein gewerbliches Unternehmen zwei, drei, vier Angebote für eine Dienstleistung einholen, so muss es gesetzlich diese Angebote alle bezahlen. Bei uns könnte das Entgelt fünfzig oder hundert Euro betragen. (Bei anderen viele Tausende.) Ein seriöses Angebot benötigt Zeit. Man muss sich mit der Materie befassen, sie sich anschauen, mögliche Probleme vorausahnen... Dies häufig unter unwillkommenemn Zeitdruck. Das habe ich an anderer Stelle mehrfach längst ausgeführt.

Auch die Unterzeichnung von Vertraulichkeitserklärungen müsste in Rechnung gestellt werden. Sie sind weitgehend überflüssig und nur ein Zeitvertrieb von Anwälten. Hinzu kommt, dass wir durch die Ehrenkodizes ohnehin zu Vertraulichkeit verpflichtet sind: wir haften mit unserer Mitgliedschaft in den Berufsvereinen. Dies setzt voraus, dass man die „non-disclosure agreements“ tatsächlich durchliest. Sie können übrigens auch Bedenkliches beinhalten. Die Ethikkodizes von ADÜ-Nord und BDÜ lassen diesbezüglich und sonst viel zu wünschen übrig. Dazu habe ich mich intensiv und ausführlich geäußert: http://www.language-for-clarity.de/deutsch/kodizes.html

Lange Zeit galt übrigens ein gesetzlicher Unternehmenskodex, worunter eine Großfirma formell bestätigte, sie habe eine Gegenleistung für jede Leistung bezahlt. Diese Zusicherung trifft selten zu.

Überhaupt müsste ein Bewusstsein dafür entstehen, dass es ein Unterschied ist, ob nun ein Angebot als Vergleichsgröße, d.h. der Konkurrenz gegenüber, erstellt wird, oder ob es sich um eine Preisorientierung (Größenordnung) handelt (um z.B. festzustellen, ob es sich überhaupt lohnt, eine bestimmte Übersetzung anfertigen zu lassen). Eine Preisorientierung ist kein Festpreis.

Zur Angebots- sowie Rechnungststellung habe ich Anregungen mit meinem Aufsatz „Zur Messung der sprachlichen Komplexität“ http://www.language-for-clarity.de/deutsch/zur_Messung_d_sprachl_K.html geliefert. Hierin fordere ich eine entsprechende Software, die in einer Welt des Maschinenübersetzens durchaus machbar sein muss.

Vorausgegangen war mein Begriff des „Zeilenwertes“, der sich softwareunabhängig bestimmen lässt. Eine kurze aber ausreichende Darstellung wurde vor einiger Zeit im ADÜ-Infoblatt veröffentlicht. Das war es aber dann, das Thema wurde von der Mitgliedschaft nicht aufgegriffen. Rückmeldungen habe ich leider auch sonst nicht erhalten.

Mein ausführlicher Beitrag zur „Zukunfts- und Strategiewerkstatt“ im Februar 2019, in dem ich diese Themen anging, wurde böswillig ignoriert, d.h. obwohl es ein Leichtes gewesen wäre, ihn richtig bekannt zu machen. Meine Beschwerde dazu im „Forum“ habe ich soeben nicht wieder auffinden können. Der Name der damaligen „Moderatorin“ ist mir vorenthalten worden. Bitte nachholen!

Ich hätte eigentlich bereits damals meine schäbige Behandlung im Zusammenhang mit der Strategiewerkstatt als Anlass zum Austritt sehen sollen: Allerdings stehe ich besonders stark zum Prinzip der Berufsverbände. Siehe dazu meine Website, eigentlich vier meiner fünf Websites, sowie mein Buch „Klasse Verantwortung“, das Ihnen vorliegen dürfte. Aber so wenig man eine perfekte Übersetzung aus einem schlecht geschriebenen Schriftstück machen kann, so bedarf es eben doch einer Vielzahl von tüchtigen Menschen, um einen Verein erfolgreich zu führen. Das Buch behandelt im ersten Drittel, was alles zur Tüchtigkeit gehört und wie diese gefördert werden kann.

Zudem kommen in unserer Branche die Entwicklungen der letzten Jahre, sprich Maschinenübersetzen sowie die steigende Macht der Agenturen hinzu.

Der Gedanke der „Agentur“ geht eigentlich auf den „Managerialism“ zurück. Das ist die verbreitete Idee, dass – abgesehen von Spezialwissen (z.B. Holzbearbeitung, Sprachbearbeitung) – es ein Wissen oder Können gibt, das Manager – und eben nur „Manager“ – besitzen. In der Obrigkeitsgesellschaft ist Eigenverantwortung bzw. Eigenständigkeit unerwünscht.

(Nebenbei: Hier spielt sogar das Vier-Augen-Prinzip mit. Die Schwächen dieses Konzeptes – abgesehen von besonderen Umständen – habe ich zuletzt – diesmal auf Englisch – http://www.language-for-clarity.de/english/translate.html vorgelegt.)

Nach diesen Ausführungen ist es beinahe überflüssig, auf persönliche Gründe hinzuweisen. So übersetze ich geschäftsmäßig nur noch wenig. Die Einkünfte brauche ich nicht mehr. Mein verbliebenes Auge erlaubt mir die Nutzung der neuesten TM-Software nicht (Trados Workbench mit Word 2003 geht noch.). Ich habe Probleme, auf der ADÜ-Nord-Website zu navigieren oder Beiträge direkt zu lesen. (Das gleiche gilt für meinBDUe). Lesen vom Blatt geht ohnehin nicht.

Mit kollegialem Gruß

Paul Charles Gregory

Südlich von Vichy in diesem verhängnisvollem Jahr der Ermächtigungsgesetze 2020/1933