PROBLEMFELDER FÜR DEN BERUF
Zukunfts- und Strategiewerkstatt ADÜ-Nord am 09. Februar 2019, von 10.00 - 16.30 Uhr

Ich lebe seit gut zwei Jahren gut und gern im tiefsten Frankreich (nach 16 Jahren Berlin und 20 Jahren HH) und reise nur ungern. Deshalb lasse ich meine sehr ausführlichen Gedanken schriftlich zukommen.
Nach dem Überblick gebe ich konkrete und innovative Impulse, wie wir weiter gehen könnten.

ÜBERBLICK DER FRAGESTELLUNGEN
1. Angebote erstellen. Unterschied zwischen Kostenschätzung und verbindlichem Angebot. (Meist versteckte) Kosten der Angebotserstellung, die selten berechnet werden. Zeitdruck bei der Angebotsabgabe. Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit einer seriösen Angebotserstellung. Risikoabwälzung (z.B. der Übersetzer hat sich bei der schnellen Angebotsabgabe arg verrechnet).
2. Das Thema „Angebote erstellen“ ist offensichtlich überhaupt mit dem Thema „Berechnung der Leistung“ verbunden.
3. Warum gehen Kunden überhaupt zu den Agenturen?
Dazu: Wir sind schon längst äußerst professionell. Das Problem liegt darin, dass in vielen Betrieben unprofessionell eingekauft wird. Daher auch wohl der Lauf zu den Agenturen? Ist Korruption im Spiel? Oder nur Inkompetenz?

In den Firmen wird kein Gedächtnis gepflegt. Es ist Personenwechsel in der Firma und unser Kunde ist weg. Dass man zuverlässig, gut, preisgerecht usw. jahrelang gearbeitet wird, ist vergessen, denn wozu sonst ist die DSGVO da? (Siehe meinen Brief an MDÜ 3/18). Aber auch vorher war es so.

Botschaft an die Firmen: Wenn Sie (auch nur gelegentlich) Übersetzungen brauchen, suchen Sie sich für jede Sprachkombination jemanden aus und bleiben Sie bei diesem. Nicht immer Angebote vom neuen anfordern. Lernen Sie sich kennen, sagen Sie ruhig wenn etwas anders gehandhabt werden soll. Legen Sie Wert auf „Goodwill“. Auch das ist Firmenwert.

In diesem Zusammenhang: „Akquise“. Einige von uns sind (milde gesagt) sehr verärgert, wenn zu uns aufdringlich Kontakt aufgenommen wird, um etwas zu verkaufen oder überhaupt. Entsprechend kommen wir nicht auf die Idee, selbst so vorzugehen. Sogar „sich in Erinnerung bringen“ geht gegen den Strich. Es hat auch etwas mit Selbstachtung (oder Stolz) zu tun. Da ist etwas in der Wirtschaftsordnung böse entgleist, wenn die „Akquise“ als normal angesehen wird. Dass sie in besonderen Situationen – etwa bei seltenen Sprachen oder bei ganz ausgeprägten Fachkenntnissen – angebracht sein mag, will ich damit nicht abstreiten. In jedem Land gibt es Vereine der Sprachmittler mit öffentlichen, leicht zugänglichen Verzeichnissen der Mitglieder. Diese pflegen wiederum persönliche Websites. Bei dem heutigen Wirtschaftsgefüge findet man, wenn man sucht, kompetente Übersetzer zu vernünftigen Preisen.

Missbrauch der Angebotserstellung. Übersetzung brandeilig gebraucht, aber doch Zeit für die Angebotseinholung. Kostet ja nichts. Dann geht man doch lieber zum Anderen, der vorher unerwähnt blieb. Oder wenn schon mit Auftrag belohnt, stellt sich nachher heraus, die Übersetzung sei doch nicht so eilig gebraucht, wenn überhaupt.

Für die Situation, dass bei der näheren Bearbeitung dem Übersetzer Bedenken kommen, ob es bei der Sache um saubere Dingen geht, ist nicht gesorgt. Ist ja eben nur Dienstleister. Wie der Chauffeur, der für den Banküberfall angeheuert und mit ehrlichem Tageslohn bezahlt wird. Diese Situation wird erst recht nicht in den (m.E. lächerlichen) Ethikkodizes der Vereine berücksichtigt. Vertraulichkeit und Geheimhaltung (non-disclosure agreements) haben Vorrang.

Dafür werden von den Vereinen das Prinzip der Qualität und unserer 100%-Beherrschung der Materie hochgehalten. Weltfremd. Nach BDÜ-Vorstellung (ich spreche also hier nicht vom ADÜ-Nord, aber die Idee ist doch wohl verbreitet) soll ich über „einwandfreie Fachkenntnisse“ in meinen Gebieten verfügen. Wenn schon, dann stelle ich fest, dass mein Auftraggeber die Leut‘ absichtlich hinters Licht führen will. (Diese Situation kommt besonders beim Dolmetschen vor.) Beziehungsweise spreche ich freundlich ihn über Unklarheiten an, womit er feststellt, ich beherrsche das Thema nicht bzw. sehr wohl. Mein Berufsspruch und Websitename – language-for-clarity – ist leider wohl verfehlt. Gefragt wird Sprache für Unklarheit.

Wenn ich übrigens wirklich über umfassende „einwandfreie“ Kenntnisse verfügen würde, so würde ich nicht dem Beruf des Übersetzers nachgehen, sondern wäre ich normalerweise eben Anwalt / Chemiker / Informatiker.

Die Kehrseite dieser fixen Idee der 100%-Beherrschung der Materie (ich glaube übrigens es ist eine ausgeprägt deutsche Idee) liegt bei der Suche nach Perfektion bei der Übersetzung, auch wenn diese daneben ist. Man müsste m.E. viel mehr Gewicht auf den Nutzen der Übersetzung legen. Dann kann man sich abstimmen, was denn wichtig wird. So fällt der Preis ggf. niedriger aus. Bei der Zwischenschaltung von Agenturen, die womöglich eine Übersetzung noch beanstanden, ist dieser Ansatz unmöglich. Translations „fit for purpose“. Oder man benutzt vermehrt das Wort „Arbeitsübersetzung“ (neben dem Wort in der Rechnung „Zeilenwert“, wie ich dies im ADÜ-Infoblatt 1/2018 Seite 20 empfohlen habe.)

Eine Freude bei diesem Beruf besteht eben darin, dass man immer wieder Neues lernen kann. Dazu gehört, dass man beim Einstieg in ein frisches Thema dieses noch lange nicht (und vermutlich niemals) beherrscht. Man unterscheide zwischen Grundkenntnissen, die unabdingbar sind, und dem, was man alles leicht nachschlagen kann. Oder nachfragen. Auch wenn Nachfragen und Austausch aus der Mode gekommen sind.

Jetzt aber zu den eigentlichen und konstruktiven Themen dieses Beitrags:

Erste Behauptung: Die Berechnung nach gedruckten Mengen allein ist ein absolutes Eigentor des Berufs. Wir sind bitte sehr keine Schreibkräfte! Übersetzung hat auch nichts mit einer Konvertierung von einem Alphabet in ein anderes zu tun, etwa Kyrillisch (z.B. Serbisch) ins Latein (z.B. Kroatisch) (die beiden Sprachen weichen voneinander anscheinend sonst weitgehend nur bei Fachvokabular und Idiomen ab).

Historisch entstanden ist dieses Eigentor vermutlich auf die Vorgaben bzw. betrieblichen Sachzwänge der Agenturen zurückzuführen. Der freie Beruf hat leichtfertig den Unsinn übernommen, vielleicht sogar gefördert. Allerdings waren die sachlichen Möglichkeiten zuzeiten der Schreibmaschine beschränkt.

Lösungsansatz: Heute hätten wir ganz andere Möglichkeiten. Kaum zu fassen ist die Fixierung auf immer komplizierteren TM-Systeme, wenn das Wesentliche – die Bezahlung nach Arbeitsaufwand – ohne digitale Hilfsmittel ausgeklammert wird.

WIR BRAUCHEN DRINGEND EINE SOFTWARE, DIE NACHSTEHENDE FUNKTIONEN BEINHALTET.

Man stelle sich beispielsweise einen Text von zwanzig Seiten vor. Bereits vor einem Vierteljahrhundert hatte ich eine Software – längst bei einem Systemwechsel verlorengegangen – die diesen Text nach Anzahl der verschiedenen Wörtern analysiert hat. Ungefähr so:
„der“ 777 Mal; „die“ 766 Mal; „das“ 755 Mal; „dass“ 655 Mal: „und“ 444 Mal: „so“ 222 Mal; „weiter“ 40 Mal.

Wenn man in der Liste den Grundwortschatz hinter sich hat, wird es interessant, denn hier kommen die Fachbegriffe oder einfach weniger benutzten Wörter vor, die ein wesentliches Teil unserer eigentlichen Arbeit ausmachen.

Schlägt man ein Wort bei https://www.collinsdictionary.com/dictionary/english nach, so erfährt man, ob es zu den 30.000 am häufigsten verwendeten Wörtern gehört (sogar mit historischem Verlauf der Gebräuchlichkeit). Mit der Einführung der „Leichten Sprache“ müsste so etwas auch auf Deutsch verfügbar sein.
Man müsste bei einer auf den Übersetzerberuf zugeschnittenen Software natürlich ein Stück weiter gehen. So sind uninteressant die ersten tausend Wörter (wie oben), ohne die keine sinnvollen Sätze gebildet werden. Man stelle sich eine Klassifizierung der Wörter nach Häufigkeit in mehreren Gruppen so vor: 1-999; 1000-9999; 10.000-19.999; und so weiter.
Wenn schon nach Anzahl der Wörter berechnet werden soll, so dürften Wörter wie Hehlerei, Heißwasserspeicher und Holsystem nicht mit dem gleichen Satz wie „der, die, das“ berechnet werden. Es ist nicht – nicht! – der Fall, dass der Arbeitsaufwand der schwierigen Wörter durch die Leichtigkeit der anderen wettgemacht wird.
(Dies abgesehen vom Grundsatz, dass – wenn schon nach Anzahl der Wörter vorgegangen wird – die Summen und Beträge bitte sehr nur nach angefangenem Tausend Wörter gelten dürften: 15.432 Wörter sind also wie 16.000 zu berechnen.)
Eine Computeranalyse wäre nicht imstande, Homonyme und dergleichen zu identifizieren. Ob „Anlage“ auf ein Maschinenaggregat, einen Zusatz zum Dokument oder eine Investition hinausläuft, wird weiterhin unserem Ermessen überlassen, einem „Expertenwissen“, das bezahlt werden muss. Den Missbrauch von Wörtern kann von der Software ebenfalls nicht quantifiziert werden. (Ich führe eine Liste bzw. markiere ich solche Fälle für mich im Ausgangstext.)
Trotzdem wären wir mit einer derartigen Software ein ganzes Stück weiter.

Die Wunschliste geht weiter. Der 20-seitige Text kann Schachtelsätze enthalten, die sich jeweils mehrfach arbeitsaufwändiger als mehrere aneinander gereihten einfachen Sätze gestalten. Die grammatikalische Komplexität klammern wir vorerst aus. Eine Analyse kann ergeben, dass dreißig Sätze mit Überlänge vorhanden sind. Überlänge gilt z.B. ab 50 Wörter. Diese Sätze könnte die Software wiedergeben, damit man kurz darauf schaut, ob sie gedanklich komplex sind.

Damit wird noch lange nicht die erforderliche Herstellung von Kontinuität zwischen den einzelnen Sätzen angesprochen. Hier zeigt sich übrigens ein wesentlicher Mangel der Maschinenübersetzung auch bei den scheinbar guten Leistungen von DeepL.


ZWEITE BEHAUPTUNG

Die Texte, die für Übersetzung in Wirtschaft und Technik vorliegen, sind selten gut geschweige denn einwandfrei geschrieben. Der Übersetzer muss über ausreichend Wissen verfügen, um die Kernaussage zu erkennen und diese wiederzugeben. Manierismen und dergleichen gehören nicht übersetzt; auch nicht Redundanzen. Es muss also nicht (und sollte vielleicht auch nicht) stilgerecht übersetzt werden. Wenn etwas schon zweimal auf der Seite gesagt wurde, muss es nicht ein drittes Mal gebracht werden, erst recht nicht, wenn diese Wiedergabe das Satzgefüge überlädt. Meist aber sind die Hürden zu einer geschmeidigen Übersetzung ernsthafter. So ist die Logik verfehlt, auch wenn die Grammatik stimmt. Übersetzt man brav die Vorlage so wie sie steht, kommt beim Empfänger der Verdacht auf, sie sei schlecht übersetzt worden. Die ersten zehn von zwanzig Seiten lassen sich womöglich schnell und schön übersetzen, die nächsten zehn – von einem anderen Verfasser – aber unmöglich. Hinzu kommen die Texte, die von einer Reihe von Autoren überarbeitet wurden, ohne dass einer für den Gesamtheit zuständig ist. Diese Zuständigkeit übernimmt dann nicht selten der Übersetzer.

Vor diesem Hintergrund der fehlerbehafteten Vorlagen muss bei Preisangaben ausdrücklich die saubere Qualität vorausgesetzt werden. Die 20 Seiten kosten voraussichtlich so-und-so viel, wenn aber die letzten 10 Seiten sich unerwartet als Kauderwelsch herausstellen, so muss der Preis im Nachherein angepasst werden.

Das ist nicht anders als in jedem anderen Beruf. Die Materialien, die zur Bearbeitung geliefert werden, müssen den Normen entsprechen. Wenn nachweisbar nicht, dann Aufpreis.

Natürlich haben wir ein Problem, wenn der Autor bzw. Auftraggeber nicht einsichtig wird. Hier muss man zuweilen nicht nur sprachlich and fachlich kompetent sind, sondern auch Diplomat. Zum Nulltarif versteht sich.

Die Situation ist sehr heterogen. Die Arbeit mit Englisch, und denkbar auch mit Spanisch, gestaltet sich anders als die Arbeit mit den meisten anderen, insbesonders den „kleinen“ Sprachen.

Vor diesem Hintergrund ist die strenge Aufgabenteilung, die zuzeiten auch von unseren Berufsverbänden aufrecht erhalten wird, öfters fehl am Platze. Gerade bei der Arbeit mit Englisch ist man häufig teil eines Prozesses. Eine Bearbeitung bzw. Zuarbeit mit Sprachenwechsel wird gefordert, und nicht unbedingt eine einwandfreie „Übersetzung“ wie in einer Prüfung. Idealerweise ist man dann Teil eines Teams. Dies ist bei der Zwischenschaltung von Agenturen unmöglich.

An dieser Stelle möchte ich auf die Grundauffassung hinweisen, die ich in meinem Vortrag „Professionalität und Rechnungsgrundlagen“ bei der BDÜ Konferenz „Übersetzen in die Zukunft“ 2012 dargelegt habe (verfügbar auf meiner Website www.language-for-clarity.de): „Professionell sein“ heißt für die Nutznießer arbeiten, nicht für den Zahlmeister. In unserem Fall arbeiten wir der gelungenen Kommunikation zwischen Menschen mit verschiedenen Sprachen zu. Wir sind somit keine – keine! – „Dienstleister“.


ZUSAMMENFASSUNG

Wir müssen längerfristig dahin kommen, dass Angebote bezahlt werden (wie auch in einigen anderen Branchen üblich): insbesondere diejenige Angebote, die umgehend angefordert sind.
Wir brauchen dringend Software, die es uns ermöglicht, Texte halbwegs nach Terminologiedichte und grammatikalischer Komplexität auszuwerten. ADÜ-Nord könnte die Entwicklung einer derartigen Software in Auftrag geben, oder wir könnten uns als Einzelmitglieder zusammenschließen, um so etwas für uns zu finanzieren. (Zweimal um die Zeit der Wende habe ich eine Aktion der Mitglieder (ca. 25) des damaligen BDÜ-HH Schleswig-Holstein mit der Herausgabe einer Broschüre organisiert: Leitfaden für die Vergabe von Übersetzungen, Auflage jeweils ca. 3.000. Es muss nicht unbedingt formell vom Verein/Verband ausgehen.)

Eine solche Software würde bei weitem nicht alle Probleme bei der Angebotserstellung und Berechnung lösen, würde aber ein entscheidender Schritt nach vorne bedeuten.
Die Software würde es ferner erleichtern, Kostenschätzung und Angebot besser zu unterscheiden. „Kostenschätzung“ bedeutet, der Preis liegt bei folgenden Voraussetzungen wahrscheinlich bei xxx (Stichwort „Größenordnung“), er ändert sich aber (nach oben oder unten), wenn folgende Parameter (xyz) sich ändern. Die Software liefert eine halbwegs objektive Basis, die somit für die Kunden akzeptierbar ist. Sie drückt zudem eine Professionalität aus, die über die Fachleistung hinausgeht.
Zum Angebot gehört – je nach Fall – ein Hinweis darauf, dass die Ausgangstexte einigermaßen „sauber“ sein müssen. Dies grammatikalisch und terminologisch aber auch hinsichtlich der Textaufmachung. Einige große Worddateien stürzen bei der Bearbeitung ab bzw. ändern sich die Schriftgrößen u.Ä., mit der Folge, dass wir erheblich mehr Arbeit haben oder ein unsauber formatiertes Endprodukt abliefern, obwohl der Ausgangstext (anscheinend) ordentlich formatiert war.
Was alles zum Angebot gehört (Checkliste). wäre eine Aufgabe für eine eigene Werkstatt.
Vieles lässt sich nur langfristig und nicht von Einzelgängern (wie mir) erreichen. So z.B. der Begriff „Zeilenwert“, wenn dieser sich als „Norm“ durchsetzen soll.

Nur zum Teil in eigener Sache: Im Jahre 2015 habe ich als Brite ein Buch veröffentlicht, gewissermaßen als Abschiedsgeschenk an Deutschland: Klasse Verantwortung – Weichenstellungen für eine starke Mittelschicht, € 18,-- ISBN 978-3-00-049448-2. Es dürfte im Buchhandel erhältlich sein, aber bequemer vom Buchhandel Pabel, Englische Planke 6, direkt gegenüber der Michaeliskirche, dem Stadtzeichen Hamburgs (37 50 10 09). Sonst www.klasseverantwortung.de Das ist hier von Belang, weil die wohl von uns allen angestrebten Ziele im vorhandenen ökonomischen und politischen Umfeld wesentlich schwieriger zu erreichen sind, als sie es in einer grundlegend reformierten Gesellschaft wären. Das Buch zeigt andere Denkweisen und Ansätze auf, um den Weg aus der Sackgasse zu zeigen.